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Hubert Schablhofer - Die Verlegerin ... Textauszug 

 

„Rein vom kaufmännischen Standpunkt sieht die Angelegenheit nicht schlecht aus“, versuchte der Verleger zu reüssieren. Elisabeth hatte sich für ein paar Stunden von Tante Emmi losgeeist um auf den Brandhof heraufzufahren, und dem Verleger kurz Bericht zu erstatten. Sie saßen unter einer Markise im Schlosshof. Vor sich, auf dem Gartentisch sämtliche Geschäftspapiere ausgebreitet, studierte K.F.Angermann die Unterlagen Punkt für Punkt durch.
„Hoffe für dich ... Danke Kathi“, unterbrach er sich kurz, als ihm die Köchin die Lokalzeitung auf den Tisch legte „… dass du dein Geld auch gewinnbringend investierst. Sehe gerade aus den Aufzeichnungen des Dr. Becker, dass die dort in Wien unmittelbar vor einer Insolvenz stehen. Pech für sie ...
Nein Glück, dass du vom Fach bist. Kann mir lebhaft vorstellen, dass den Verantwortlichen dort etliches gegen den Strich geht ...
Umgekehrt müsste das dortige Management doch einsehen, dass sie gerade deswegen so tief geschlittert- und daher einschneidende Maßnahmen unumgänglich sind. Glück wiederum für dich, weil du dir durch die, im wahrsten Sinne des Wortes in das Eck gedrängten Herren, entscheidende Verhandlungsprioritäten schaffen kannst. Werde meinen Einfluss geltend machen, damit die nötige Unterstützung seitens der Banken gewährleistet ist. Als Sicherstellung hast du ja deine beiden Betriebe. Naja. Stopp. Wart ab. Lass mich erst mal ausreden. Weiß schon, was du sagen willst. Versichere dir, dass im Falle des Falles - was wir allerdings nicht hoffen wollen - ich dir natürlich unter die Arme greifen werde, um mal volkstümlich meine Unterstützungszusage zu deponieren. Hoffe jedoch, du schaffst es allein, bin sogar der Meinung, dass du das im Alleingang bewältigst. So- und nun aber zu dir, und deinen Geschäften, um dein Fragezeichengesicht zu entzaubern. Hast du wirklich ernstlich gedacht, dass einem Mann in meiner Position solche Transaktionen, wie die Deinigen, lange verborgen bleiben? Hat mich anfangs schon gekränkt, weil du mich überhaupt nicht informiertest. Kam nach längerem Grübeln zur Einsicht, na ja, weil eben gerade mir der Begriff, ‘Jemand wird, flügge', fremd und du deine eigenen Wege zu gehen, deine eigenen Ideen zu verwirklichen, anstrebtest. Schließlich kann jeder sein Geld investieren, wo er meint, erfolgreich zu sein. Schon kurze Zeit später musste ich neidlos anerkennen, dass mit der Art von Partnersuche sich da für dich offenbar eine gewinnträchtige Marktlücke auftat. Bin nämlich bis vor kurzem selbst Mitglied ... Keine Angst wollte mir keine Partnerin zulegen, nur am eigenen Leib erfahren ob der Seriosität ... Deswegen auch zehntausend Franken hingeblättert. Sogar Mistress Douglas traf ich in dem illustren Kreis. Weiß übrigens jetzt, warum die damals so Allianz mit dir war.
Was diese Pornografie betrifft, fand ich das doch ziemlich insolent von dir. Hab deshalb auch den Bürgler eingeschaltet. Dass der sich ausgerechnet von dir aufs Kreuz legen lässt, konnte ja kein Mensch vorhersehen. Musste ihn daraufhin abziehen. Hat sich inzwischen auch erledigt, weil mir der Jürgen Holland deine Verbesserungsvorschläge mitgeteilt hat. Na, und gegen ein delikates Aktfoto hab nicht einmal ich etwas einzuwenden. Da staunst du, was?“
„Onk... Onkel Fritz, ich bin platt.“ Gestand sie offenherzig. „Ich ... Da hätte ich mir wirklich eine Menge schlafloser Nächte erspart wenn ... Ich getraute mich jedoch nicht. Deine Standesdünkel ...“
„Papperlapapp, von wegen Standesdünkel. Vertrete gewisse Moralanschauung. Stimmt. Um jedoch 'In' zu bleiben, wie ihr Jungen das bezeichnet, ich würde sagen: am Ball bleiben ...
Ist auch egal. Um jedenfalls mit der heutigen, modernen Zeit mithalten zu können, muss man auch gewisse Abstriche tätigen. Die Minarin würde sagen, Altes mit Neuem verknüpfen.“ Elisabeth konnte nicht umhin, ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Verzeih, Onkel Fritz.“ Flüsterte sie zärtlich. „Und danke auch für deine Hilfestellung in der Wienangelegenheit. Vertrete die Meinung, dass der Verlag mit einem ordentlichen Management versehen sicherlich wieder flottzukriegen ist.“
„Vertrete die Meinung auch. Wenn die Unternehmensführung ... Da laust mich doch gleich der Affe“, rief er unvermittelt sich selbst unterbrechend aus und deutete auf ein Foto in der Zeitung, die er während seiner Ausführungen flüchtig durchblätterte.
Elisabeth sah ihm neugierig über die Schulter. Das Bild zeigte einen Geistlichen mittleren Alters. 'Schlitzohr in Soutane.' Las sie halblaut den in dicken Lettern über drei Spalten gezogenen Aufmacher. „Du, Onkel Fritz der sieht dem Monsignore ähnlich der im vergangenen Herbst ...“
„Sieht nicht nur so aus, er ist es auch- ist es auch“, röhrte der Verleger los und schlug sich dabei lachend auf die Schenkel. „Ist genau derselbe Prälat, den ich vorigen Herbst zur Gamstreibjagd einlud ...
Hat mir drei Gämsen weggeschossen. Hahaha ... Wahrhaftig ein Schlitzohr. Lies nur, was da steht!“ Gespannt und höchst interessiert lasen sie den zwei Seiten langen Bericht. Demnach legte der Kohlenhändler Rainer Pakult als angeblicher Bischof jahrelang die sogenannte 'Feine Gesellschaft' herein, betrog sozusagen, ohne materiellen Schaden anzurichten. Der selbst ernannte Würdenträger als Jagdgast in der obersteirischen Waldheimat. …
Der Ehrenprälat am Steuer der Yacht eines deutschen Industriemagnaten ...
Der falsche Bischof auf einer echten Adelshochzeit …
„Da werden die Mariazeller Bürger schön schauen. Dem Oberschulrat Pilger hat er die Vermittlung einer Audienz beim Papst versprochen.“ Lachte der Verleger.
„Onkel Fritz, der hat doch auch dich geleimt. Den Kohlenhändler hättest du sicher nicht zur Jagd eingeladen, oder?“
„Stimmt genau. Doch jetzt wo ich ihn kenne, würde ich ihn sofort wieder einladen. Auch als Kohlenhändler. Ich kann dir sagen, der Mensch hat mir schon so viele fröhliche und unbeschwerte Stunden beschert. Bis jetzt kenne ich keinen liebenswürdigeren, geistvolleren- und vor allem redegewandteren Menschen. Der- und der Jäger Mandl beisammen ... Du wirst dich sicher noch entsinnen. Was war das doch für eine Hetz, die bis heute noch Ihresgleichen sucht. Auch an jenen Abend beim Jägerwirt denke ich noch gerne zurück. Schier zerkugelt- ja geradezu zerfranst haben wir uns über dem seine Histörchen aus allerfeinsten Kreisen. Was mir dabei besonders imponiert ist, dass er nie etwas genommen- sondern ganz im Gegenteil seine sicherlich nicht so leicht verdienten Märker ...
Hier steht etwas von an die viertausend Mark, die er berappt hat, um sich das Priestergewand anzuschaffen, dass er Geschenke verteilte, die er aus eigener Tasche bezahlt ... Dass er, wie gesagt, sein eigenes Geld hineinsteckte, um offenbar jene Anerkennung der High Society zu erlangen, die ihm als Kohlenschipper ganz sicher versagt bliebe. Wär gar nicht so abwegig dem seine Memoiren, exklusiv zu veröffentlichen.“ Sinnierte er nachdenklich.
Wie Elisabeth den Verleger einschätzte, würde er alles daransetzen, um diese Idee zu verwirklichen. Sie sah sich auch nicht getäuscht. Schon nach relativ kurzer Zeit, in der er den Bericht nochmal aufmerksam las, erhob sich K.F.Angermann mit der Entschuldigung, dass er eben kurz mal telefonieren müsse.
Elisabeth saß noch lange nachdenklich da. Überhaupt keine Frage: Kleider machen Leute. Ganz im Stile der Erzählung Gottfried Kellers.
Okay.
Wer in diesen Kleidern steckte ...
Sekundär? ...
Primär? ...
Was wäre wenn: der Rainer Pakult tatsächlich ein echter Bischof ...? Nur nicht so liebenswürdig, fröhlich, geistvoll, sprachgewandt, wie da zu lesen, und auch Onkel Fritz gebrauchte die selben Worte Stand also doch die Persönlichkeit im Vordergrund. Oder?
Nein. Die Kleidung öffnete ihm das Tor zur feinen Gesellschaft, weil: 'In einer gewissen Schicht gehört es dazu, dass man einen Prälaten kennt', wie sich die Großgrund Besitzers Gattin in dem Interview da ausdrückt. Besorgt willkommenen, repräsentativen Aufputz. Die dahinter steckende Persönlichkeit bewirkte ja, dass er überall herumgereicht, weiterempfohlen, geliebt und vergöttert, dass er halt ein gern gesehener Gast war.
Was wohl ist wichtiger?
Beides gleich?
Kleidung allein: das Tor zur feinen Gesellschaft zwar sperrangelweit offen. Man wird jedoch nicht herumgereicht.
Persönlichkeit, Charme, Charisma allein: Man würde herumgereicht, doch nur unter Seinesgleichen, da Tor zur feinen Gesellschaft zu. Machten also doch die Kleider die Menschen erst zu feinen Leuten ... Sozusagen hoffähig?
Zweitrangig wohl oder übel die Charaktere. Denn, jetzt abgesehen von dem Schwindler Pakult, konnte doch wohl niemand behaupten, dass in jedem feinen Gewand auch ein feiner Charakter steckt. Nur zu schade befand sie, dass nicht das ganze Jahr über Karneval ist. Denn dann könnte der Kohlenschaufler Rainer Pakult weiterhin frisch und fröhlich als Ehrenprälat durch die High Society jetten. Die wiederum müsste sich nicht mokieren, einem Hochstapler aufgesessen zu sein …

 

 8. Kapitel

… Schon längst hatte die Verlegerin ihre autobiografische Lebensbeichte beendet, saß Jakob Perner immer noch wie gebannt, leicht vornübergeneigt, nachdenklich im Campingstuhl, schien das Gehörte erst etappenweise zu verarbeiten, nachträglich zu registrieren. Ihre Bekenntnisse, ähnlich einer Sturmflut, nein das war ein Hurrikan. Leidenschaftlich vorgetragen, lebendiges Vermächtnis einer beispiellosen Karriere. Sie indes, wühlte mit der Gabelspitze zwischen zerfledderten Fischgräten. „Kein Wunder. Die stochert doch schon eine Ewigkeit darin herum.“ Der kurze Gedankengang, im Unterbewusstsein registriert, gelangte nicht bis zur zentralen Schaltstelle. Die ist vielmehr damit beschäftigt, das eben gehörte erst einmal einzuordnen, geistig zu verarbeiten. Ungeheuerliche Ungeheuerlichkeiten. Neben Rührsal, kaltschnäuziges Gehabe. Eiskalte Entscheidungen. Dann wieder höchst menschliche Charakterzüge. Dieser Wüstensohn hat sie richtig eingeschätzt ... Gut und Böse. Hand in Hand gepaart. Langsam hob Jakob den Blick. Blickt in das schöne Gesicht mit dem grausam lächelnden Mund. Kann sich bewundernd- anerkennender Gedanken nicht erwehren: Mein Gott ist die Frau schön ... Geradezu dämonenhaft ... Scheint allesamt und jederlei zu beherrschen ...

Hob schließlich laut, lauter als gewohnt, zu sprechen an, dabei seine Chefin aus halb gesenkten

Augenlidern scharf beobachtend: „Ihre Lebensgeschichte hört sich faszinierend an, gnädige Frau. Geradezu schaurig schön. Getraue mich sogar zu wetten dass, wenn das was Sie in den vergangenen Stunden von sich erzählten in einer Art Autobiografie veröffentlicht würde, augenblicklich wäre der autobiografische Bestseller geboren. Bewundere ihren Mut. Bewundere auch den Ehrgeiz, den Sie haben. Beneide Sie jedoch nicht. Und zwar deshalb nicht, weil: Ständige Jagd nach Macht, Reichtum, Ansehen, Erfolg irgendwann in einem Vakuum enden. Sie ließen das mehrmals anklingen ist das, ist das ausreichend? genug Lebensinhalt?“

Elisabeth hob erstaunt die rechte Augenbraue. „Gerade eben hast du mir erklärt, nie und nimmer deinen Buckel, deinen Rücken vor anderen Leuten beugen zu müssen ... Wäre deshalb dein Wunsch, reich zu sein.“

„Da kannte ich Ihre Lebensgeschichte noch nicht.“

„Was hat meine Biografie damit zu tun?“ Höchst aggressiv klang ihr Ton plötzlich.

„Verzeihung Chefin. Meine damit nichts anderes, als dass ich nie diese Energien aufbringen könnte, um so erfolgreich - oder besser formuliert, um nur annähernd so erfolgreich zu sein.“ Log in dem Bewusstsein, seiner Brötchengeberin eben einen denkbar schlechten Dienst erwiesen zu haben. 'Wenn die erfährt, was ich denke, frisst sie mich.'

„Ich weiß zwar nicht, was du denkst, ahne es jedoch.“ Seltsam schrill klang ihre Stimme. Blitzschnell sauste die Gabelspitze neben dem rechten Tischbein zur Erde. Elisabeth hatte die Gabel kurzerhand mit einer heftigen Schlenkerbewegung zu Boden geschleudert. Rasch bückte sie sich, hielt das Esswerkzeug Bruchteile später mit den Spitzen nach oben, grimmig lachend in die Höhe. Jakob wäre vor Schreck fast vom Stuhl gekippt. Angeekelt wendete er sich ab. Zwischen den Gabelzinken, von einer Spitze regelrecht in der Mitte durchbohrt, zappelte eine Feuerkröte. „Schau sie dir an! Dieses hässliche Tier! Von allen gemieden und verachtet, fristet sie ihr Dasein. Ich will kein Schattendasein fristen. Ich will keine Kröte sein. Ich will ...“ Mitten im Satz, wie wieder zur Besinnung kommend, brach Elisabeth unvermittelt ab. „Wie gesagt ahne ich, was du denkst. Vielleicht hast du sogar recht. Gesundheit, Geborgenheit, Zufriedenheit. Jene Attribute, die man - vereint im Schoße einer Familie - im Laufe eines Lebens irgendwann einmal anstrebt. Ja!.. Super! Sind längst vergessene Träume. Scheine, durch meinen stetig steigenden Geltungsdrang nach noch mehr Macht, Geld und Ansehen so manche Annehmlichkeit zu verpassen. Ich war einmal eine arme Kröte. 'Krot', ist hierzulande hierfür der Ausdruck. Eine arme Krot will ich nie mehr sein!“ Durch schlenkernde Bewegungen rutschte das gequälte Tier von der Gabel, plumpste, sich überschlagend in den Fluss. „Pack zusammen, wir fahren.“ Unwirsch knapp kommt die Anweisung. Der Butler beeilte sich, ihrer Aufforderung augenblicklich Folge zu leisten.

Leise surrend schaltete das automatische Getriebe einen Gang höher. Elisabeth saß schweigend neben Jakob. Der wiederum, von einer Fragenvielzahl, die ihm auf der Zunge lag, geplagt, getraute sich nicht, dieser Neugierde, ihr freien Lauf lassen. Verkniff sich seinen Wissensdurst, von der Verlegerin womöglich als aufdringlich empfundenen Wissensdrang ... 'Eine arme Krot will ich nicht sein ...' Ihre Worte von vorhin geisterten durchs Gehirn. Auch er will keine ‘Arme Krot‘ mehr sein, um bei der Bezeichnung zu bleiben. Ist er es aber nicht immer noch? Abhängig von der Gunst der neben ihm sitzenden Frau, die ihm die Privilegienvielfalt nur deshalb gewährt, weil er ihr Lebensretter ... War Zufall ... Gunst der Stunde? Sind doch Blödsinn, solche hirnspinstige Gedanken. Nur um dein eigens Gewissen zu beruhigen, weil ... Du genauso machtgierig, wie die Frau neben dir? Jakob, um der nutzlosen Hirnakrobatik zu entgehen, konzentrierte sich gewaltsam darauf, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Ging ihm doch nicht schlecht! Ist eben keine Führernatur. Was soll's?

Kurz bevor der Fahrweg in die Hauptstraße einmündete, wurde die Verlegerin, die bis dahin schwieg, wieder gesprächig. „Da links, das kleine Haus, ist mein Heimathaus. Hier bin ich aufgewachsen.“

Jakob betrachtete das Häuschen, denn größer ist das etwa sechs Mal vier Meter messende Holzhaus nicht, interessiert. Auf einem aus Stein gemauerten Fundament ist das Häusel errichtet. Die Seitenwände, biedere Holzbalken. Aus roh zugehauenen Baumstämmen, die, an den Enden zusammengezinkt, dem Bau seinen Halt geben. Winzige Fenster, versehen mit winzigen Fensterläden, zieren die Fassade. Das Holzschindeldach, vom Zahn der Zeit nicht verschont, wies schon vielfach vermorschte Stellen auf, zusätzlich von Moosflechten überwuchert. An der Giebelseite, deren Fassade einst kunstvoll verziert gewesen schien, die vergilbte, schon schwer lesbare Aufschrift: 'Fischerhaus'. Ob sich, auf die einst in dem Haus lebenden Bewohner beziehend, oder hier tatsächlich unmittelbar am Flussufer ein Fischer hauste, ließ die Aufschrift nicht erkennen. Der gesamte Bau erweckte den Anschein, als würde er sich verschämt am Wegesrand ducken.

„Klein, aber schmuck.“ Wagte Jakob die vage Bemerkung.

„Halt an.“

Elisabeth stieg steifen Schrittes aus dem Rover. Auch Jakob war ausgestiegen. Gemeinsam umrundeten sie das Gebäude. Die Verlegerin rümpfte sogleich angeekelt die Nase, als sie des hinter dem Haus angelegten, wild wuchernden Vorgartens ansichtig. Jakob indes, deutete auf ein dreifingerbreites in die Hauswand gebohrtes Loch. Vermutete einen Einbruchsversuch.

„Das hier ist ein ‚Soachloch‘. Und auf Jakobs ratlosen Blick hin: „Ein Pinkelloch, um mit deiner gewählten Ausdrucksweise zu sprechen.“

Elisabeth musste herzlich lachen. Das ratlos blickende lange Gesicht ihres Butlers veranlasste sie schließlich, ihm Sinn und Zweck zu erklären. „Diese Art Haus besitzt keine Toilette, die ist außerhalb angebaut. Damit man an kalten Wintertagen nicht nachts ins Freie gehen musste, hat man zweckdienlicherweise sich solcher praktischer Öffnungen bedient. Nur für maskulin benutzbar. Feminin musste notgedrungen nach draußen.“

So weit das Auge reichte, nur Unkraut. Brennnessel ohne Zahl, überwucherten den halbverfallenen Holzzaun. Mit zorniger, unbeherrschter Bewegung zeigte sie auf den Garten. „Früher, als Tante Emmi hier noch wohnte, da hat alles geblüht, ist gepflegt gewes … Jööö, was sehe ich da? Komm Tschak. Hilf mir.“

Eilig humpelte Jakob dienstbeflissen an den Gartenzaun heran. Da saß doch wahrhaftig ein putziger Eichkater, wild fauchend, zwischen den Nesseln in einer Falle. „Armes Tier. Wart, ich helf dir.“ Elisabeth beugte sich über den niederen Staketenzaun, packte den fauchenden Eichkater geschickt am Genick, hob - ungeachtet der heftig brennenden Blasen, die sie sich während der Rettungsaktion zuzieht - das Eichkätzchen mitsamt der Falle aus den Nesseln.

Jakob indes, er verstand die Welt nicht mehr. Eben noch ein Tier grausam mit einer Gabel aufgespießt, im nächsten Moment, tierliebende Samariterin.

„Glotz nicht so. Hol mir bitte die Hutschachtel aus dem Kofferraum. Stich auch gleich eine Reihe Löcher in den Deckel. Wir müssen den kleinen Burschen hier schleunigst zum Tierdoktor bringen.“

Elisabeth befreite, noch während sie sprach, behutsam die furchtbar zugerichtete Pfote des Eichkaters aus dem Schlageisen.

„Gnädige Frau darf ich bemerken, dass in besagtem Behältnis der Lieblingshut der Lady aufbewa...“

„Das ist mir egal. Das verletzte Tier hat Vorrang. Leg den Hut meinetwegen ohne Schachtel in den Kofferraum. Mach, mach, beeil dich!“

Er tat, wie ihm geheißen. Elisabeth setzte den noch immer wild fauchenden Gesellen vorsichtig in die Schachtel, stülpte, ehe das Tier entweichen konnte, den Deckel darüber. „Hoffe, dass dich der Veterinär wieder zusammenflickt“, murmelte sie sichtlich zufrieden. Jakob will die Hutschachtel hochheben, um sie im Kofferraum zu verstauen.

„Nein.“

Erstaunt blickte der Butler hoch. Die bezeichnende Gestik ließ ihn beiseitetreten. Blickte schweigend auf die mit Blasen übersäte Frauenhand, die beinahe liebevoll nach der Schachtel griff. Nicht achtend, der durch die Nesselberührung erneut hinzukommender Blasen.

 

Etwa zur selben Zeit. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu, erste Sterne glitzerten am Firmament. Vom Grossmünster dröhnten die mächtigen Schläge des Abendgeläuts, vermischten sich mit den Glocken des Fraumünsters. Tönten über Straßen und Plätze, bis hinein in stille, enge Gassen. Am Limmatkai stoppte plötzlich der Verkehr. Auto um Auto, Stoßstange an Stoßstange. Die Blechlawine geriet ins Stocken, kam im einsetzenden Verkehrschaos gänzlich zum Erliegen. Wüstes Hupkonzert verschluckte förmlich die melodischen Glockentöne, pflanzte sich an Häuserzeilen fort. Schrillte, von diesen als vielfaches Echo zurückgeworfen, ähnlich heulender Sirenen über die Dächer der Altstadt.

Unmittelbar vor dem neuen Verlagshaus, dessen protzige Fassade aus Stahlbeton und blau getöntem Glas wie eine Vision inmitten der altehrwürdigen Züricher Zunfthäuser gen Himmel ragte, standen einige scheinbar herrenlos gewordene Autos mitten auf der Fahrbahn, blockierten den Verkehr. Ihre Besitzer scherten sich wenig um das wüste Hupkonzert, sind vielmehr damit beschäftigt, Spruchbänder und Parolen zu entfalten, die sie demonstrativ vor dem Eingangsportal mit der riesenhaften Aufschrift ‘Angermann Druck', aufstellten.

„Was soll der Unsinn! Räumen Sie sofort die Fahrbahn. Ich muss zu einer wichtigen, geschäftlichen Besprechung!“ Schimpfte ein elegant gekleideter Herr gesetzten Alters aus dem geöffneten Seitenfenster seiner Luxuslimousine. Der junge Mann am Straßenrand wendete den Kopf, trat aus der Reihe der Demonstranten, kam gemächlich an den Wagen herangeschlendert. „Wir demonstrieren hier, mein Herr.“ Antwortete er ernst, deutete auf ein an seiner Brust hängendes Plakat. 'Angermann und Lichtsatz, in Gefahr ist unser Arbeitsplatz', ist in leuchtend roter Sprayschrift auf dem weißen Karton geschrieben.

„Das ist doch eine Unverschämtheit, die ihresgleichen sucht! Ich werde diesen skandalösen Vorfall unverzüglich zur Anzeige bringen. Dann ...

„Dann poliere ich dir die Glatze, Opa.“ Feixte da der Junge.

„Unerhört. Sie Frechdachs. So etwas ist mir noch nie untergekommen.“

Noch während der elegante Herr nach Luft und -Worten ringt, beugte sich der Junge zum geöffneten Seitenfenster herab, musterte den Mann im Nadelstreif kurz, um dann unvermittelt zu fragen: „Waren Sie schon einmal arbeitslos?“

„Was soll die absurde Frage? Natürlich nicht! Oder sehe ich etwa aus, wie...

„Stopp, keine Beleidigungen, mein Herr. Erahne, was Sie andeuten wollen. Doch sehen Sie, gerade weil Sie kein Prolet sind, brauchen Sie auch keine Fahrbahn blockieren“, unterbrach ihn der Demonstrant barsch.

„Ich fordere Sie zum allerletzten Male auf: Geben Sie die Fahrbahn frei!“

„Nein. Die bleibt blockiert.“

„Seien Sie doch vernünftig, Mann. Ich habe wichtige Termine. Kann mir nicht leisten, auch nur einen Einzigen zu versäumen. Herrschaft noch einmal, gib doch endlich die Fahrbahn frei! Könnt auf dem Gehsteig von mir aus demonstrieren, soviel ihr wollt“, ächzte Rechtsanwalt Becker. Wischte, ständig nervös auf seine Armbanduhr blickend, mit einem seidenen Taschentuch über Stirn und Nacken. „Die Polizei wird sowieso dieses lachhaft lächerliche Unterfangen in Kürze beenden und euch allesamt verhaften.“

„Da haben Sie nicht einmal so unrecht, Sie Klugscheißer.“ Gab da der Junge wütend zur Antwort. „Uns tritt man in den Arsch, wenn wir unser Recht vertreten wollen. Ihr Bonzen habt da probatere Mittel um euch zu wehren: Money – Schmiergeld - Protektion ... rechtsstaatliche Prinzipien. Oder irre ich?“ Unvermittelt zeigte er mit dem ausgestreckten Arm auf einen verlegen abseits am Straßenrand stehenden, weißhaarigen Mann. „Sehen Sie den Alten da? Den da, der das Spruchband so in Händen hält, als hätte er flüssiges Eisen angefasst? Das ist der Vollmann Paul. Der ist seit vierzig Jahren lang als Setzer in dem Verlagshaus da beschäftigt. Und jetzt, lächerliche paar Jahre vor seiner Pensionierung droht seine Entlassung. Fliegt schuldlos raus. Einfach so. Weil der Personalchef der Auffassung ist, dass eine Umschulung in dem Alter nicht mehr rentabel sei, hat er den blauen Brief bekommen. Ich frage Sie jetzt: Wo finden Sie da das Rechtsstaatprinzip! Ist man mit fünfundfünfzig nur mehr Muster ohne Wert, das man wie verrottetes Stückgut auf den Müllhaufen wirft? Wir demonstrieren hier mit und für den Paul. Der hat sich sein Lebtag nie etwas zuschulden kommen lassen. Hat sich auch nie über etwas beschwert. Wir überredeten ihn dazu. Und gerade, weil sich der Paul heute das erste Mal in seinem Leben wehrt, wird er - und da bin ich mir ziemlich sicher - Schwierigkeiten bekommen.“ Wie zur Bestätigung deutete der Junge mit einer bezeichnenden Geste auf einen soeben an der Skyline auftauchenden Polizeihubschrauber, der sich in raschem Anflug näherte. Durch das ständig lauter werdende Geknatter des anfliegenden Helikopters hindurch schrie er: „Mir ist das egal. Ich demonstriere aus Solidarität zu dem Bollmann Paul. Ich bin noch jung. Bei mir ist das nicht so tragisch. Jedoch der Paul, der ist alt. Den nimmt keiner mehr. Gerade deswegen sind ihm und mir und uns Ihre Termine scheißegal.“

Unvermittelt ertönte ein lang gezogener, schriller Pfiff. Da ging mit dem Jungen eine erstaunliche Veränderung vor. Gerade eben noch einigermaßen höflich zurückhaltend klang die Stimme nunmehr aggressiv und gefährlich. Zog eine schwarze Kapuze aus der Hosentasche, stülpte sie über den Kopf. Aus schmalen Sehschlitzen funkelten den Mann im BMW zwei wütende Augen an. „Hau ab, Bonze. Jetzt geht’s gegen die Staatsgewalt. Jetzt werden wir diese miese, zum Himmel stinkende Gesellschaftsordnung einmal gründlich umkrempeln, und Euch korrupte Schweine in den Arsch treten, damit endlich jeder begreift, dass das auch unsere Gelder sind, die Ihr Euch da oben in maßloser Gier unter den Nagel reißt. Los verschwinde, sonst jage ich dir eine Stahlkugel in deinen fetten Wanst.“ Dabei zielte er mit einer Gummischleuder auf den völlig verstörten Mann im Nadelstreif.

Rechtsanwalt Gerald Becker verkroch sich förmlich hinter dem Lenkrad seines Wagens. Irgendwie mutete das alles unwirklich, ja geradezu irreal an. Das konnte doch nur ein böser Albtraum sein! Von überall her tauchten urplötzlich vermummte Gestalten auf, offenkundig bestrebt, die friedliche Demonstration zu einem Konflikt einer oder mehrerer rechtsradikaler Gruppen gegen die bestehende Ordnung umzufunktionieren. „Das ist doch glatter Wahnsinn. Eklatanter Missbrauch des freien Demonstrationsrechtes ... Das ist nichts anderes als nackte Gewalt.“ Murmelte Anwalt Becker betroffen.

Die ersten Steine flogen gegen die heranrückende Polizeimacht. Brutale Knüppelhiebe als Antwort. Sirrend sausten aus selbst gebastelten Schleudern abgeschossene Bleikugeln durch die Luft. Finden anvisierte Ziel. Ließen Getroffene vor Schmerz stöhnen. Wälzten sich, brutal niedergeknüppelt, geschundene Leiber am Boden.

Und über all dem Chaos immer noch das nervenzerfetzende Geheul kreischender Autohupen ...

Hohngelächter in halb tauben Ohren, vermischt mit heulenden Polizeisirenen, knatternden Rotorblättern.

Gespenstisch erhelltes Szenario. Über die wogende Menge hinweg, zuckende Lichtbündel rotierender Blaulichter. Dann wankte die Menge. Wich vor der anstürmenden Ordnungsmacht. Rettete sich in heilloser Flucht vor den unbarmherzigen Knüppelhieben. Verkroch sich tränenüberströmt vor dem ätzenden Reizgas.

Unvermittelt verstummte das Gehupe. Die plötzliche, unheimliche Stille ließ für winzige Bruchteile die Nervenanspannung noch einmal bis zur Grenze des Erträglichen hochschnellen. Rechtsanwalt Becker hob seine vor das Gesicht geschlagenen Hände. „Mein Gott“, ächzte er. „Das, das war fast schlimmer als im Krieg!“

Kreidebleich stieg er aus seinem Wagen und begutachtete kopfschüttelnd den Schaden, den die überkochende Volksseele an dem BMW möglicherweise anrichtete, fand zum Glück nur einige unbedeutende Schrammen.

Ein kurzer Befehl ließ den Anwalt hochblicken. Hinein in das blutüberströmte Gesicht des Jungen von vorhin, der gerade in Handschellen abgeführt wird. Ihre Blicke kreuzten sich. Der Fuß des jungen Mannes stockte für einen Bruchteil. Sausend fährt der Gummiknüppel nieder. Ließ den Jungen schmerzhaft zusammenzucken. Ein kurzes Kommando. Das laute Geräusch sich schließender Autotüren. Der Junge entschwand seinen Blicken. Ein nichtssagender, mutlos resignierender Blick, registrierte der Anwalt nachdenklich.

Im Gegensatz zur Außenfassade bot das Innere des neuen Verlagshauses eine geradezu heimelige Atmosphäre. Keine Spur von Beton und Glas. Ausgenommen vielleicht die gläserne Pförtnerloge, die nicht so recht in den übrigen Rahmen passen will. Ungemein subtil zur übrigen Ausstattung, wie reichlich Edelholz an den Türen und silbergraue Spannteppiche am Boden, sind auch die nussbraun getäfelten Wände. Die Decken bilden eine interessante Perspektive dazu. Dicht aneinandergereihte, waagerecht - mit der Schmalseite nach unten hängende Eichenholzlatten.

Eine Gewisse- man ist fast versucht zu sagen, latente Unruhe - schien den riesigen Bau vom Keller bis zum Dach zu beherrschen. Nicht die vielen Menschen, die geschäftig umhereilten, sind die Ursache. Und auch nicht die ratternden Schreibmaschinen, tickenden Fernschreiber. Jedoch auch nicht die ständig klingelnden Telefone, und nicht die leise surrenden Lifte, sondern vielmehr ein eigenartiges vibrieren. Kaum spürbar, dennoch allgegenwärtig. Dem Insider längst bekannt, fand der Newcomer Grund und Ursache im alten Verlagshaus, das sich unscheinbar hinter der protzigen Glasfassade verbarg. Hier befand sich das Herzstück, sozusagen die pulsierende Ader des Unternehmens: mächtige Rotationsmaschinen, die rund um die Uhr Zeitungen, Zeitschriften, Journale, Magazine ohne Zahl produzierten. Jene Endprodukte herstellten, die in den oberen Etagen entworfen, kommentiert, gestaltet geschrieben ...

Ein Heer an Mitarbeitern sorgte für den reibungslosen Ablauf sämtlicher Herstellungsprozesse, wie diverse Recherche, Interview, Layout, Satz, Druck, bis hin zum Vertrieb. Von der obersten Etage aus gemanagt, diktiert, in Gang gehalten. Geleitet jedoch ausschließlich von nur einem einzigen Mann, der mit eherner Faust sein Imperium gegen negative Einflüsse von außen abschirmte.

Karl Friedrich Angermann saß, leicht nach vorne gebeugt, in einem uralten Lehnsessel und kaute nachdenklich an seinem Federhalter, den er zwischendurch wie spielerisch durch die Finger gleiten ließ. Rein äußerlich wirkte er eher wie ein Durchschnittsbürger. Weit entfernt von jenen oft publizierten Klischeevorstellungen eines erfolgreichen, dynamischen Unternehmers. Mittelgroß, rundlich, mit schlohweißer- im Nacken etwas zu lang geratener Haarmähne, die den kantigen Schädel umwallte. Das glatt rasierte Gesicht, im Gegensatz zur Körperfülle, schmal geschnitten, von graublauen Augen beherrscht, die sich mit zunehmendem Alter hinter dicken Tränensäcken versteckten. Herausragendste Merkmale: vielleicht noch das eckige Kinn und der schmallippige Mund. Während die obere Gesichtspartie einen eher schläfrigen Eindruck erweckte, strafte die untere Hälfte diesen Eindruck jedoch sofort wieder Lügen. Mund und Kinn scheinen eine eigene Einheit zu bilden. Zeugten von Willenskraft und Durchsetzungsvermögen. Schon so mancher Geschäftspartner musste hinterher unliebsam zur Kenntnis nehmen, dass dies unter Umständen ein grober Fehler sein konnte, wenn man zu sehr der oberen, einschläfernden Hälfte vertraute, und dabei die dazugehörige, Untere, außer Acht ließ.

Für seine Mitarbeiter - Karl Friedrich Angermann hörte die Bezeichnung Dienstnehmer, Untergebene, Bedienstete nicht so gern, da alle im Verlagshaus beschäftigten, vom Pförtner bis zum Chefredakteur gleich wichtig sind - ist der Verleger so etwas wie ein väterlicher Freund, obwohl er dienstlich ganz andere Maßstäbe anlegt. Privat ein liebenswerter, leutseliger, jovialer alter Herr, der sich am liebsten unter das einfache Volk mischt, vor allem dann, wenn er in Österreich, in den obersteirischen Bergen Urlaub macht.

Dienstlich jedoch eher das Gegenteil. Da saß dann ein völlig anderer Mensch vor seinen Mitarbeitern. Mit leiser, emotionsloser Stimme - die nur bei weitschweifiger Abweichung vom Thema eine Nuance lauter zur Sache mahnte - kamen knappe Anweisungen, wurden oft wichtige Entscheidungen getroffen, die der jeweilige Abteilungsleiter nach etwaigen kurzen Rückfragen sofort realisiert, beziehungsweise einer Erledigung zuführt. Legten die Ressortchefs, und das konnten sie durchwegs alle, Erfolgsbilanzen vor, folgte meist ein bestätigendes Nicken. Lob und Anerkennung fanden sich dann stets in Form einer stattlichen Erfolgsprämie auf den Gehaltszetteln aller am Gelingen Beteiligter. Erarbeitet dagegen eine Abteilung stagnierende- oder negative Bilanzen, versuchte der Verleger in stundenlangen Arbeitsgesprächen mit den verantwortlichen Ressortchefs Hintergründe und Ursachen zu analysieren. Konnte der betreffende Abteilungsleiter den Misserfolg nicht plausibel begründen, sah er sich eine Etage tiefer wieder. Die Begründung des Verlegers gegenüber dem protestierenden Betriebsrat ist stets dieselbe: 'Die Leute werden von mir überdurchschnittlich bezahlt, daher erwarte ich auch überdurchschnittliche Leistungen.'

Einfach und bieder, das Büro im Erdgeschoss des alten Verlagshauses, das direkt oberhalb der Druckereiräume lag. Neben dem abgeschmuddelten Schreibtisch stand ein alter Setzertisch, bestückt mit verschiedenen Setzkästen, und dicht darüber hing ein gerahmtes Spruchband an der Wand: 'Rühr Dich Du deutscher Mann und merk, Handwerk heißt Hand ans Werk.'

Hierher zog sich Karl Friedrich Angermann immer dann zurück, um nachzudenken, wenn wichtige Entscheidungen ins Haus standen. In dem, ansonsten nur mit uralten Möbeln ausgestatteten Raum, fehlte jegliche Mondänität der vier Stockwerke höher liegenden Chefetagen. Oben wurden jene Ideen verwirklicht, die hier tief unten entstanden.

Liebt diese verstaubt wirkende Atmosphäre, die stets aufs Neue an eine längst vergangene Zeit erinnert. An seine ersten Gehversuche als selbstständiger Unternehmensleiter. Braucht die althergebrachte vertraute Umgebung, um überhaupt kreativ werden zu können. Der Lärm, den die direkt unter dem alten Büro arbeitenden Druckmaschinen erzeugten, störte den Verleger nicht im Geringsten. Eher das Gegenteil. Da fehlte ihm jedes Mal etwas, wenn er jene, ihm längst vertraut gewordenen Geräusche, die ihn nun schon so viele Jahre begleiten, einmal nicht hörte. Pflegte stets zu seinen Mitarbeitern zu sagen: 'Solange das stählerne Lied dieser Maschinen erklingt, wisst ihr, dass es Arbeit gibt.‘

Wie er nun so vorübergeneigt dasaß, erweckte das den Anschein, als sei der alte Mann eingeschlafen. Wer den Verleger näher kannte, wusste, dass er hellwach, und sein Verstand hart und präzise arbeitete.

Mit dem abgekauten Bleistift kritzelte er hin und wieder Anmerkungen auf ein Blatt Papier. Unterstrich- oder umrandete sie oder strich sie nach kurzer Überlegung wieder durch. Schmiss nach etwa einer halben Stunde den Stift in eine Ablage und richtete sich auf. Aufmerksam las er die gemachten Notizen noch einmal durch. Mit dem Ergebnis sichtlich zufrieden, lehnte sich K.F.Angermann entspannt zurück, drückte die Sprechtaste der Gegensprechanlage, neben dem Telefon wohl das einzige Relikt moderner Bürotechnokratie in diesem Raum. „Minarin ist der Doktor Becker schon da?“

„Soeben eingetroffen, Herr Meister.“

„Was die alte Schachtel mit ihrem Meister hat? Heutzutage noch.“ Kann er sich nicht verkneifen, laut zu sagen, um im nächsten Moment mit einem breiten Lächeln den Lautstärkeregler vorsichtshalber auf minimal zu drehen. Ein wahrer Proteststurm, von wegen alter Schachtel, die noch immer gut genug sei, den ganzen Ramsch von ihm fernzuhalten, ergoss sich plötzlich aus dem von der momentanen Überbeanspruchung rückkoppelnden Lautsprecher über den nun doch etwas verdutzt dreinblickenden Verleger. „Ist ja gut, Minarin. War nicht so gemeint“, schmunzelte K.F.Angermann. Angermann und schaltete das Gerät ab.

Ruthild Minar, als einzige Ausnahme im gesamten Betrieb genoss das Privileg, sich gelegentlich ohne eine sofortige Degradierung einen Fehler erlauben zu dürfen. Als sie vor rund vierzig Jahren zu ihm kam, ist sie ein hageres, sommersprossiges Girl gewesen. Hager ist sie auch heute noch. Nur ... nicht mehr so jung, befand er. In der allgemeinen Bewertung jedoch sekundär. Primär vielmehr, dass er sich den gesamten lästigen Bürokram ohne die Minarin, wie er seine Sekretärin stets zu nennen pflegte, ganz einfach nicht vorstellen konnte. Sie wusste alles, -konnte alles. Ausgestattet mit einem untrüglichen Gespür alte An- und Einsichten, mit denen eines modernen Managements sinnvoll zu koordinieren, machte sie zu einer unentbehrlichen Mitarbeiterin. Für den Verleger ein nicht mehr wegzudenkendes Faktotum. Einfach die perfekte Chefsekretärin in Person. Was immer auch er zu hören- oder zu sehen wünschte, bekam er in kürzester Zeit. Und was immer er auch benötigte, fand er sofort auf seinem Schreibtisch, am richtigen Platz liegend, vor. Einziger störender Fakt: Nicht um die Burg konnte sie sich abgewöhnen, ihn Meister zu nennen. Stimmt schon. Als sie bei ihm anfing, war er Buchdruckermeister und führte die alte Druckerei seines Vaters. Damals ist die 'Meister' Anrede üblich, sozusagen gang und gäbe gewesen. Doch - obwohl nie sonderlichen Wert auf Titel und salbungsvolle Anreden legend – findet er, ist im Zeitalter der Manager und Präsidenten die Art von Berufsbezeichnung halt doch nicht mehr ganz zeitgemäß, einfach nicht mehr angebracht.

'An die Verlagshause Angermann. Zürich, CH Schweiz. Und darunter: An das Chef persönlich.' Ruthilde Minar drehte den Luftpostbrief, unschlüssig in der Hand haltend, hin und her. Ist sich nicht ganz klar: An das Chef persönlich, klang alles andere als grammatikalisch. Außerdem, wer wohl mochte dem Verleger aus Übersee schreiben? Nachdenklich betrachtete sie die ungelenken Schriftzüge auf dem Kuvert. Legte dann doch, einem plötzlichen Impuls nachgebend, den Brief obenauf zur übrigen- ganz persönlichen Post Karl Friedrich Angermanns, ehe sie sich um den restlichen Posteingang kümmerte. Nach erfolgter Durchsicht legte sie die persönlich an den Verleger adressierten Briefe auf dessen Schreibtisch, nicht ohne nochmals kopfschüttelnd die krakelige Schrift auf dem zerknitterten Umschlag zu betrachten. Der Rest landete in ihrem Büro im Verteilerkorb.

Mit einem leichten Ruck hielt der Personal Lift in der obersten Etage. Karl Friedrich Angermann zwängte sich zwischen den sich langsam öffnenden Türen hindurch, strebte eilenden Schrittes seinem Büro zu. Hier in der Chefetage sah alles ganz anders aus. Eine ganz andere Welt tat sich dem Betrachter auf, als vier Stockwerke tiefer der Fall. Obwohl räumlich nicht viel größer, wie im Erdgeschoss, strahlte das Chefbüro hier heroben eine gänzlich andere Atmosphäre aus. Durch überdimensional große Fenster zeichneten Sonnenstrahlen farblich reizvolle Reflexe auf die mit Teak und Palisander getäfelten Wände, an denen Schwarz-weiß Fotos hingen, die den Aufbau des Unternehmens dokumentierten. Ungefähr in Raummitte, auf einem quasi von Wand zu Wand reichenden, havannabraunen Teppichboden stand halbkreisförmig geformt, ein wahres Monstrum von Schreibtisch, dessen linke Hälfte eine Serie Schalter und Knöpfe zierte. In Schreibtischmitte drei Monitore, an die sich zwei Telefone samt Sprechanlage reihten. Nur der rechte Teil ließ jegliche Technik vermissen. Ein kleines Bild in schlichtem Silberrahmen stand da irgendwie verloren, herum, zeigte den Verleger an der Seite einer zierlichen Blondine und zwei auf seinem Schoß sitzende blonde Jungen.

Die gegenüberliegende Wand wurde fast zur Gänze durch einen riesigen Schrank mit ausschwenkbarer Hausbar verdeckt. Etwas seitlich davor schließlich stand die obligate, wuchtige, mit braunem Leder überzogene, Sitzgarnitur.

Trotz der luxuriösen Ausstattung wirkte der Büroraum weder pompös, noch überladen. Karl Friedrich Angermann setzte sich in seinen schwarzen, hochlehnigen Sessel und betätigte einen der vielen Schaltknöpfe. „Minarin bitten Sie mir den Doktor Becker herein.“

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür und der Anwalt betrat mit hochrotem Gesicht das Büro. „Was ist denn mit Ihnen los, Becker? Sie sehen heute so aufgeregt aus. Ist etwas Unangenehmes passiert?“

„Das kann man wohl sagen!“ Rief‘s, in höchstem Maße erregt, aus. „In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt.“

„Na, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Setzens sich bitte. Sind ja ganz außer Atem.“ Der Verleger betätigte einen kleinen Schalter am Schreibtisch. Geräuschlos glitt die Bar aus der Verankerung und schwenkte nach außen. „Wollen Sie etwas trinken, Doktor?“

„Ja, bitte.“

„Ich nehme Bier. Und Sie?“

„Einen Martini.“

Der Verleger besorgte die Getränke und setzte sich dann dem Anwalt gegenüber. „So lieber Doktor. Jetzt erzählens mir mal, was Sie so aus der Fassung gebracht hat. Ähm, eh ichs vergesse, hier im Shaker sind noch ein paar Eiswürfel, falls der Martini zu warm sein sollte.“

In den folgenden Minuten hörte er aufmerksam zu. Als der Anwalt noch einmal seine Erlebnisse mit dem jungen Demonstranten schilderte, unterbrach der Verleger das Gespräch, rief seine Sekretärin über die Sprechanlage. „Minarin, warum wurde ich von dem Vorfall vor dem Verlagsgebäude nicht sofort informiert?“

„Weil Sie ausdrücklich angeordnet haben, im alten Büro nicht gestört zu werden.“

„In diesem Fall hätten Sie mich sofort informieren müssen!“

„Nein.“

„Und wieso nicht?“

„Darf ich daran erinnern, dass Sie persönlich anordneten, nicht gestört zu werden? Auch nicht, wenn eine Atombombe auf das Verlagsgebäude fallen sollte!“

Der Verleger musste unwillkürlich lächeln. „So? Hab ich das?“

„Ja! Das haben Sie.“

„Ist gut, danke. Rufen Sie mir den Swietelsky herauf.“

Mit einer nervösen Handbewegung strich K.F.Angermann über das schlohweiße Haar. „Ich glaube Doktor Becker, wir werden unsere ursprüngliche Unterredung auf morgen verschieben müssen. Ich muss mich noch näher mit dieser Entlassungsgeschichte, von der ich zugegebenermaßen aus Ihrem Munde das erste Mal höre, befassen.“ Blickte kurz auf seinen Terminkalender. „Morgen zehn Uhr?“

„In Ordnung.“ Erwiderte der Anwalt und verabschiedete sich, eine knappe Verbeugung andeutend.

„Swietelsky, warum werden in meinem Betrieb Mitarbeiter entlassen, ohne dass ich davon etwas weiß?“ Karl Friedrich Angermann, mit übergeschlagenen Beinen in seinem Chefsessel sitzend, sah seinen Personalchef fragend an. Robert Swietelsky, ein kleinwüchsiger Mann mit vorquellenden Froschaugen, stand nervös vor seinem Chef und drehte unschlüssig die Daumen ineinander.

„Ich verstehe nicht ganz, Herr Direktor?“

Der Verleger machte eine unwillige Armbewegung. „Meine, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben.“

„Tut mir leid, Chef. Ich verstehe Ihre Frage trotzdem nicht. Bei uns ist in den letzten zwölf Monaten niemand gekündigt worden.“

K.F.Angermann blickte seinen Personalchef irritiert an, schien einigermaßen indigniert. „Doktor Becker hat mir doch soeben berichtet, dass einige unserer Leute wegen bereits erfolgter Kündigungen vor dem Verlag demonstriert haben!“

„Ich weiß, Herr Direktor. Bin selber in dem Verkehrschaos gesteckt. Kann Ihnen trotzdem nichts anderes mitteilen. Wir entließen im vergangenen Jahr, auch in jüngster Zeit nicht, keine Bediensteten, wurde auch niemand gekündigt. Gab lediglich zwei vorzeitige Auflösungen des Dienstverhältnisses auf eigenen Wunsch und fünf Beendigungen wegen Erreichung der gesetzlichen Altersgrenze.“

„Dann verstehe ich nicht ganz, für was die Leute eigentlich demonstrieren?“ Unschlüssig nimmt der Verleger einen Brief von dem Poststapel und betrachtete die krakelige Schrift, ohne eigentlich die inhaltliche Aussage zu erfassen. Zu sehr ist er mit den momentan anstehenden Problemen beschäftigt.

„Offen gestanden. Ich verstehe das auch nicht.“ Murmelte der Personalchef verlegen. „Kann mir das Ganze nur so erklären, dass die Leute da etwas in die falsche Kehle... ahem, wollte sagen: Missverstanden haben.“

„Wie meinen Sie das?“

„In der vorletzten Vorstandssitzung wurde doch die bevorstehende Umstellung auf den neuen Fotosatz und die damit verbundenen, notwendigen Umschulungen unserer Setzer auf die neue Technologie, behandelt. In diesem Zusammenhang beauftragten Sie mich mit der Erstellung einer Arbeitsstudie, bis zu welchem Alterslimit eine solche Umschulung für den Betrieb, betriebswirtschaftlich gesehen, tragbar ist. Ich habe die Studie vor vierzehn Tagen vorgelegt. Laut Studie ist eine Umschulung nur bis etwa zum fünfzigsten Lebensjahr sinnvoll. Da Sie, Herr Direktor, noch keine Entscheidung getroffen haben, ist die Angelegenheit bis Erteilung entsprechender Direktiven für mich nicht präsent. Habe mir das ganze Geschehen schon mal durch den Kopf gehen lassen. Hege da einen bestimmten Verdacht. Wir haben vor zirka einem halben Jahr einen gewissen Winfried Lehner in der Versandabteilung eingestellt, der nun schon wiederholt durch radikale rechtspopulistische Äußerungen unliebsam aufgefallen ist. Ich vermute - das ist bitteschön nur eine Vermutung - dass der Lehner unsere Leute zu dieser Demonstration überredet hat, um sie dann für seine radikalen Zwecke zu missbrauchen.“

K.F.Angermann, aufmerksam den Ausführungen seines Personalchefs folgend, akzeptierte nach kurzer Überlegung dessen Meinung. „Gut Swietelsky. Überprüfen Sie bitte den Sachverhalt. Ich will auch wissen, wer von unseren Leuten an der Demonstration teilgenommen hat. Sollte sich Ihr Verdacht hinsichtlich der von Ihnen vorgebrachter Bedenken bestätigen, haben Sie Vollmacht, diesen Lehner fristlos zu entlassen.“

Karl Friedrich Angermann hatte während der Sachverhaltsdarstellung seines Personalchefs den Brief mit der ungelenken Anschrift schon x-mal gewendet und gedreht. Eigentlich nur, damit seine Hände etwas zu tun bekamen. Achtlos will er das zerknitterte Kuvert auf den übrigen Poststapel zurücklegen, weil, einer rituellen Gepflogenheit zufolge, alle persönlich an ihn gerichteten Schreiben er erst nach dem Mittagessen in aller Ruhe zu lesen pflegte, als der etwas unübliche Hinweis 'An das Chef persönlich' seine Aufmerksamkeit erregte. K.F.Angermann öffnete den Brief und vertiefte sich in den, im Gegensatz zu der in Deutsch verfassten Adresse, in englischer Sprache geschriebenen Inhalt. Mühsam entzifferte der Verleger die mehr oder minder teils unlesbaren, handschriftlichen Hieroglyphen.

Schon nach wenigen Sätzen änderte sich der skeptische Gesichtsausdruck, begannen die Augen des alten Mannes zu strahlen. Kollern dem hartgesottenen Wirtschaftskapitän Freudetränen über die welken Wangen. „Bernd lebt“, jubelte er unbeherrscht los. Über dreizehn Jahre lang wartete er vergeblich auf ein Lebenszeichen seines Jungen. Unzählige Privatdetekteien mit Nachforschungen über den Aufenthaltsort seines Sohnes beauftragt. Botschafter, Diplomaten, ja sogar Regierungen bestürmt ...

Schlussendlich nur ein Schlag ins Wasser, weil sämtliches Bemühen vergeblich gewesen. Niemand konnte ihm über den Verbleib seines Jungen Auskunft geben- konnte ihm sagen, ob der Bub noch am Leben war, wo er sich gerade aufhielt. Begann sich schon, jeglicher Hoffnung beraubt, am Tor zum Greisenalter stehend, mit seinem Schicksal abzufinden. Und jetzt der Brief, diese Nachricht! Tausendmal mehr wert, als alle Reichtümer eines Erdenlebens ist Elternliebe. In einem Menschenherzen wohnen bekanntlich menschliche Stärke und menschliche Schwäche nebenan, Tür an Tür. Der Volksmund hat hiefür eine humorvolle Formulierung parat, indem er sagt: Die Reue ist wie eine Frau. Sie kommt meist zu spät. Vor vielen Jahren verstieß er seinen kleinen Jungen. In blindem Schmerz den Buben in ein Internat gesperrt, eigenes Fleisch und Blut quasi davongejagt …

Erst Jahre später offenbarte ihm das Bekennerschreiben seines in der Zwischenzeit nach Amerika ausgewanderten zweiten Sohnes die ganze Wahrheit. K.F.Angermann griff in die unterste Schublade, legte ein in Computerschrift gehaltenes Schriftstück vor sich auf den Schreibtisch neben das Schreiben des Vaqueros. „Gut und Böse. Wie nah liegt das doch beieinander,“sinnierte er laut. Da hat glatt der eine Bruder kalt den anderen schmutzig verkauft. K.F.Angermann nahm nochmal den Brief in die Hand, obwohl er Inhalt und Aussage inzwischen auswendig kannte. „… Lieber Pa. Ich bin fix und fertig. Mir bleibt nichts anderes, als Suizid zu begehen. Bin neben meiner Drogensucht Emo Mitglied und ein Ritzer. Muss vor Schmerzen ständig weinen. Dieses selbst auferlegte Schmerzritual wäre, obwohl mein Körper von Narben übersät, noch einigermaßen zu ertragen, wenn nicht die Verachtung seelisch so weh tun würde. Wir Emos werden überall verachtet, verhöhnt, gehasst. Will Dir auch beichten, dass ich damals Ma überfahren habe. Hab meinem Zwillingsbruder das Abzeichen an den Hemdkragen gesteckt. Ich weiß, ich bin eine verachtenswerte Memme. Werde mit einem goldenen Schuss in Kürze meine Schuld sühnen. Verzeih mir, ich liebe Dich. Gerd …“

Wie wohltuend und befreiend, diverse Schicksalsschläge ins rechte Lot rückend, las sich der andere Brief.

„... Ich sein nur einfaches Mensch. Sein ehemaliges Teepflücker von Rio Negro. Habet Senior Bernd kennen lernet in unmenschliches Gefahr. Sein Gutes Junge. Tilgen Sie Ihres grobes Schuld und holen Sie das Junges wieder zu sich nach Hause. Er habet sich das schon lange verdient. Vaya con Dios, Senor Angermann, gezeichnet Sancho Guellero Vilias …“

K.F.Angermann las immer wieder und wieder den letzten Absatz des Briefes. „Vaya con Dios, Sancho. Und tausendmal Dankeschön. Bei Gott, ich will deinen Rat befolgen. Sofort befolgen“, murmelte es immer wieder. Zutiefst ergriffen nahm er das kleine Bild aus dem schlichten Bilderrahmen. Betrachtete das Foto gerührt. Verzeih mir Helen, dass ich in meinem Schmerz, in meinem unbeschreiblichen Leid über deinen Heimgang unseren Sohn zum Sündenbock gestempelt, konnte nicht ahnen, dass sein Bruder, der Gerd ... er ist, ja auch unser Sohn. Der, der jetzt bei dir ist.“

Das Augennass des weinenden Mannes rann, Tränen tropften auf das Bild. Merket es nicht. Merkte auch nicht, dass sich Konturen mehr und mehr verwischten, sich aufzulösen begannen, das Bild nur mehr den Mann, mit einem blonden Buben am Schoß, wiedergab.

„Sie haben doch nicht etwa die Bar geplündert, Herr Direktor“, stotterte Ruthilde Minar ganz perplex. In all den Jahren ist der Chef ihr noch kein einziges Mal irgendwie nahe getreten. Und jetzt? Kam er nicht soeben wie von Furien gehetzt aus seinem Büro gestürmt? und da hat … hatte er sie herzhaft abgeküsst. Einfach so - auf den Mund.

„Na also, Minarin. Gibt’s halt doch noch was auf dieser Welt, das Sie so aus der Fassung bringt, dass Sie dabei ganz und gar auf Ihre meisterliche Anrede vergessen.“ Lachte Karl Friedrich Angermann übermütig. „Und jetzt rufen Sie mir bitte sofort den Flughafen an und buchen mir einen Flug erster Klasse nach Südamerika...

Ach ja, und noch etwas: Telegrafieren Sie der Lissi nach Österreich, sie soll die Fische in Ruhe lassen und auf dem schnellsten Weg heimkommen. Ich betraue sie ab sofort mit der Führung des Unternehmens, bis ich aus Venezuela zurück bin.“

„Ja ab ... Aber was wollen Sie in Südamerika? ... U ...Und auf einmal so plötzlich?“ Stotterte die Sekretärin, noch vollkommen außer Fassung.

„Einem Teepflücker, einem Vaquero meine Aufwartung machen. Ihm gleichzeitig für die Kopfwä... ach, das verstehen Sie nicht. Will einfach endlich meinen Sohn heimholen.“

 
Die Roverbereifung mahlte knirschend, als Jakob mit überhöhter Geschwindigkeit in den zum Gutshof führenden Kiesweg einbog. Ruckartig hielt das Fahrzeug unmittelbar vor dem Eingangstor.

Durch die ruppige Fahrweise wäre Elisabeth um ein Haar die Hutschachtel zu Boden gefallen. Die Verlegerin öffnete, tadelnd den Kopf schüttelnd die Wagentüre. „Nehmens mir bitte die Schachtel ab, Huber. Da sitzt nämlich ein rekonvaleszenter Bursche drinnen.“

„Soo. Wen haben Sie uns da denn mitgebracht?“ Gutsverwalter Washuber, ein vollbärtiger Mittfünfziger hob vorsichtig den Deckel, um ihn sofort wieder zu schließen. „Das ist ja ein Eichkatzerl!“ Wunderte er sich und sah die Verlegerin fragend an.

„Das Tier hat sich in einer Marderfalle verletzt. Ist der Doktor Fiesler noch da?“

Washuber nickte bestätigend. „Gehns bringen's ihm den Patienten. Er soll sich das lädierte Tier anschauen. Vielleicht ist noch was zu retten.“ Reichte dem Verwalter die Schachtel, stieg aus dem Rover. „Gibt es sonst noch was Neues?“

„Ja. Die Sekretärin des Herrn Angermann hat schon einige Male angerufen. Sie möchten zurückrufen. Scheint wichtig zu sein.“

Elisabeth nickte dem Verwalter zu. „Ist gut, Herr Washuber. Ich mach das später. Doch vorher will ich wissen, was mit dem Tier ... Ah, da ist er ja, der Doc!“ Unterbrach sie sich, nahm dem Verwalter die Schachtel wieder ab, und eilte dem eben aus dem Stallgebäude tretenden Veterinär entgegen. „Tag, Doktor. Hab einen Eichkater aus einem Fangeisen befreit. Ist ziemlich arg verletzt. Sind Sie so lieb und schauen mir bitte nach, was dem Tier fehlt, ja?“

Tierarzt Dr. Fiesler, ein würdevoller alter Herr, sicher schon bald achtzig Jahre alt, jedoch in Ermangelung eines geeigneten Nachfolgers noch immer im Dienst, trat interessiert zu der kleinen Gruppe. „Tja, dann alles mal rein in die gute Stube. Werde mir den kleinen Racker sofort ansehen.“ Lächelte freundlich und ging schon mal vor.

Mit geschickten Händen untersuchte der Tierarzt das durch eine Injektion ruhig gestellte Tier. Rund um den großen Eichentisch die Verwalterkinder. Daneben Elisabeth und sogar Jakob Perner als interessierter Zuseher blickten allesamt dem Arzt über die Schulter. Nach etlichen 'Hmmm, ja ahems', streifte der Tierdoktor die dünnen Gummihandschuhe, die ihm Elisabeth zu Beginn der Untersuchung überzuziehen behilflich gewesen, ab und legte sie beiseite. „Sieht nicht gut aus, für den kleinen Kerl da. Kommens mit ihm morgen in meine Praxis. Möchte die lädierte Pfote röntgen. Bin mir nämlich nicht sicher. Vermute, die Pranke ist gebrochen. Habe sicherheitshalber das Glied vorerst geschient. So, nun brauchen wir noch eine Notunterkunft.“

Kaum dass der Arzt ausgeredet, sind die Washuberkinder allesamt verschwunden, um nur kurze Zeit später einen riesigen Vogelkäfig anzuschleppen.

„Nicht schlecht“, stellte der Veterinär lächelnd fest. „Das genügt fürs Erste.“ Nahm behutsam das Tier und legte den Eichkater in den mit Spreu ausgelegten Käfig. „Wohlweislich schon vorgesorgt?“ Allgemeines, eifriges Kopfnicken signalisierte die Antwort.

Endlich findet Elisabeth Zeit, durch mahnende Worte des Verwalters erinnert, den Verlag in Zürich anzurufen. „Hallo, Frau Ruthild? Ja? Guten Abend. Elisabeth spricht hier.“

„Grüezi, Frau Direktor.“ Tönte die Stimme der Chefsekretärin am anderen Ende. „Bin ich froh, Sie endlich zu erreichen.“

„Sie wissen ja, die Fische. War wieder mal wunderschön. Was gibt‘s denn so Wichtiges, mich womöglich um meinen verdienten Urlaub zu bringen?“ Elisabeths Stimme klang sichtlich nervös. Umsonst rief die Minarin, wie der Verleger seine Sekretärin stets zu nennen pflegt, nicht an.

 „Der Chef ist schon seit einigen Stunden unterwegs nach Südamerika und will, dass Sie während seiner Abwesenheit den Verlag leiten. Ihre Anwesenheit ist daher dringend notwendig, da morgen Vorstandssitzung ist und außerdem Andruck des Bestsellers 'Die verlorene ...“

„Ja, um Himmels willen, was will er in Südamerika?“ Unterbrach Elisabeth reichlich frustriert den Redeschwall der Chefsekretärin.

„Der Bernd, der Sohn. Er ist wieder aufgetaucht. Der Chef holt seinen verlorenen Sohn heim.“

„Soso.“ Elisabeth registrierte vorerst überhaupt nichts. Fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Nur eine Hiobsbotschaft wäre noch imstande gewesen, ein ähnliches Trauma zu erzeugen. Mit fahrigen Bewegungen sucht- und findet sie die Zigarettenpackung. Indes, den Telefonhörer zwischen Kopf und Achsel eingeklemmt, sie - den Redeschwall der Sekretärin mehrmals unterbrechend - die soeben erhaltene Mitteilung zur Kenntnis nimmt. Das totale Black-out schien, nein war perfekt ...

Der Verlegersohn …

Aufgetaucht …

Holt ihn heim …

In ihr sträubte sich plötzlich etwas, weigerte sich den eigentlichen Aussagesinn überhaupt begreifen zu wollen, begreifen zu müssen ...

Schlagartig die völlig veränderte Situation zu analysieren …

In der Schnelle unmöglich, sich darauf einzustellen.

„Ist gut, Frau Minar. Ich werde morgen pünktlich da sein.“ Mit unendlich scheinender, müde resignierender Geste legte sie den Hörer auf die Gabel, hat das 'Grüezi' gar nicht mehr gehört. Gedanklich, nein mit leerem Hirn saß sie da, wusste nicht ... Ist nicht fähig, das eben gehörte real zu verarbeiten, sachlich umzusetzen.

Welche Tragweite, welche Gefahr barg die völlig neue Konstellation? Hat der Mohr nun seine Schuldigkeit getan?

Kaum ein Gegner außer Gefecht taucht schon der Nächste auf. Diesmal weit gefährlicher, weil des Verlegers eigenes Fleisch und Blut. Welche Prioritäten werden dem Junior eingeräumt? Sie ist zwar, durch Namengebung auch eine Angermann, jedoch nicht das leibliche Kind! Ob sie ihre Erfahrungen im Kampf um das Imperium erfolgreich einsetzen kann?

Hat der Juniorchef überhaupt Interesse?

Sind daher sämtliche düsteren Prognosen nicht doch zu voreilig?

Fragen über Fragen ohne eine befriedigende Antwort. Die wird erst die Zukunft bringen. Mit einer matten Bewegung wischte Elisabeth eine Haarsträhne aus der Stirn. „Jakob! Frau Washuber, wo ist mein Fahrer?“ Rief es durch die halb geöffnete Tür in den Nebenraum.

„Weiß nicht, Frau Direktor. Werd' gleich mal nachschauen.“

Elisabeth fühlte, dass jeglicher Elan von ihr gewichen, jedwede Aggression erlosch. Erstickt in tiefer Resignation. Gewissheit, nein Tatsache, einen entscheidenden Wendepunkt, absolut nicht gewollt- jedoch ohne ihr Zutun entstanden, scheinbar hilflos anzusteuern. Sämtliche ehrgeizigen Pläne, kurz vor der Verwirklichung in zwei deutschsprachigen Ländern eine Multimedienmacht zu errichten, eine Farce? Sogar mit im Gedankenspiel, erste Kontakte zum zweiten unmittelbaren Nachbarn zu knüpfen, um irgendwann auch in Deutschland Fuß zu fassen. Überlegungen, die angesichts der sich jüngst anbahnenden Entwicklung vorerst ad acta gelegt, vielleicht später greifen?

Gedanken, die verschwinden. Wiederkommen. Vergehen. Gedanken, die nicht im Gehirn verankert- nicht festgehalten, sich verflüchtigen wie Nebelschwaden bei Sonnenaufgang.

Die würzige- nach frisch geschnittenem Gras duftende Luft tief einatmend, trat sie auf die Terrasse. Schräg unterhalb der Terrassenbrüstung spielten die Verwalterkinder abfangen. Tobten über die Wiese, tollten gemeinsam um die Wette.

Irgendwas schien plötzlich ihre Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Sie bildeten einen Kreis und guckten neugierig zu Boden. Ein großer Käfer tappte da tollpatschig durchs Gras. Erklomm mühsam den schwankenden Grashalm. Nie und nimmer wird der plumpe Kerl flügge! Irrtum. Der Käfer spreizte seine Flügel, schwirrte hörbar summend, entgegen allen Gesetzen der Schwerkraft, ab. Wer hätte das gedacht. Entflieht geschickt den nach ihm greifenden Händen. Zieht einen eleganten Kreis, ehe er dennoch, von einer nach ihm geworfenen Jacke zu Boden gedrückt, ins Gras plumpste. Gierige Finger ergreifen das Tier. Sperren den Käfer in eine kartonartige Schachtel.

Das Gehirn, dem die Hände gehorchten, entwirft einen grausamen Plan. In kindlicher Naivität, nicht in der Lage, die für das Tier tragische Tragweite zu realisieren, wird der Käfer von flinken Fingern aus seinem dunklen Gefängnis geholt und dem gackernd im Hof herumlaufenden Hühnervolk zum Fraße vorgeworfen. Zwei, nein drei schnelle Schnabelhiebe.

Aus.

Vorbei. Lediglich eine einsame Flaumfeder, die der Wind emporwirbelt, von einer sich um die Beute streitenden Henne verloren, scheint stummes Zeugnis über das jähe Ende des Hirschkäfers abzulegen.

Gedanklich noch bei dem Krabbeltier, saß Elisabeth Angermann sinnend auf der Gartenterrasse. Räkelte sich im Liegestuhl. Döste vor sich hin. Wie wohl der Verleger reagieren wird? Jetzt, wo der verlorene Sohn endlich gefunden ist. Wird den Konzern übernehmen, der Junior …

Schreckte aus dem Halbschlaf. Die lästige Stubenfliege kriecht kitzelnd über Arm und Bein. Ein schneller Schlag. Denkste. Die Fliege ist schneller. Kaum wieder eingedöst krabbelt das Biest schon wieder entnervend über die Haut. Doch diesmal wird der Störenfried systematisch bekämpft. Zeitlupenhafte Annäherung der Hand. Die schnelle, haschende Bewegung gekonnt ausgeführt. Schon sitzt das lästige Insekt in der hohlen Hand fest. Doch, was nun? Zerquetschen? Nein, wie scheußlich sich zu bekleckern.

Freilassen? Okay. Doch da fällt der Blick zufällig auf eine, sich zwischen den Blättern des am Terrassenzaun emporrankenden Wilden Weines halb versteckend, im Strahl der soeben untergehenden Sonne silbern glänzenden Spinnwebe. Schon ist das Todesurteil über das, sich gerade aus der halb offenen Hand heraus windenden Insekts gefällt. Ruckartig, die Handbewegung. Die Stubenfliege zappelte hilflos im Spinnennetz.

Leicht schaudernd wandte sich Elisabeth ab. Was unwissende Kinder vorhin am Hühnerhof unbewusst als Fütterung angesehen, ward hier, sich der Tragweite des Handelns voll bewusst, jedoch die eigenen Hände nicht schmutzig machen wollend, geschehen.

Genau. Das ist es! Die eigenen Hände in Unschuld waschen! Ein bezahlter Killer musste her, um das Problem zu lösen, dann ist allemal …



Biografische Angaben.

Name: Schablhofer

Vorname: Hubert

Geburtsjahr: 1939

Staatsangehörigkeit: Österreich

Beruf: in Pension, vormals öffentlicher Dienst

Buchveröffentlichungen: 3

Titel: Che sarà sarà, (Nach Überarbeitung nicht mehr aktuell ... Neu: Die Verlegerin)

 Prisoner of War – Kriegsgefangen, ISBN: 978849015602-5

 Ein Tagebuch erzählt, ISBN: 978371030030-1

 


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